Aktionistin, 62

„Lora Sana, Aktionistin, 62“

Nach den intensiven „Let’s twist again“ [1] -Recherchen zum Performancebuch sah ich mir die Wiener Aktionismus-Fotos dann noch einmal an und fragte nach der Autorenschaft der Aktionistinnen und nach der Form der Zusammenarbeit bei einer Aktion. Warum wurden die an einer Aktion mitwirkenden Frauen – die ‚Aktionistinnen’ – zum Großteil nicht namentlich erwähnt? War das peinlich? Hatten diese Aktionistinnen keinen Stellenwert? Aus Gesprächen mit den Aktionistinnen Hanel Koeck und Anni Brus entwickelte sich die fiktive Aktionistin „Lora Sana, 62“. In einem Interview, das die Kunsthistorikerin Johanna Schwanberg mit Anna Brus und mir führte, sprach Anna Brus aufschlussreich über ihre eigene Rolle als Akteurin in Aktionen von Brus, Mühl und Schwarzkogler und zum Selbstverständnis der – vielfach anonym gebliebenen – Frauen, die bei den Aktionen der Wiener Aktionisten mitwirkten:

„Ich denke, die Künstler haben jahrelang versäumt zu sagen, dass sie mit Menschen zusammengearbeitet haben. Wenn sie die Namen nicht nennen, wer soll es dann tun? Lange war auch in Texten nur von ‚dem Modell‘ die Rede, und ‚das Modell‘ hatte keinen Namen – außer Cibulka, aber der war ja auch Fotograf und ein Mann. Erst viel später interessierten sich vor allem junge Frauen dafür, was es eigentlich mit diesen Leuten um die Aktionisten auf sich hatte.“ [2]

Zudem floss auch ein Telefongespräch mit Hanel Koeck in die Performance und Textarbeit „Lora Sana, Aktionistin, 62“ ein.
Für „Lora Sana“ überarbeitete ich Kopien der ursprünglichen Aktionsfotos mit schwarzen minimalistischen Eingriffen, indem ich die aktiven Aktionen der „Aktionistin“ herausarbeitete und in einer performativen Intervention die männlichen Protagonisten in einem von mir gewählten Ausschnitt eines Aktionsfotos überzeichnete. Danach wurde die Arbeit erneut fotografiert und dadurch zu einer Dokumentation einer weiteren Aktion, eines performativen Eingriffs. Die Kuratorin und Kunsthistorikerin Silvia Eiblmayr schreibt darüber im Vorwort von „Nachbilder einer ungleichzeitigen Gegenwart“: „’Lora Sana‘ ist eine fiktive Figur, in der Dertnig ihre umfassende Forschungsarbeit zu diesem Thema künstlerisch verdichtet.“ [3] Meine Arbeiten haben dann auch Diskussionen unter den Wiener Aktionisten selbst ausgelöst, und Peter Gorsen stellte in „Das Nachleben des Wiener Aktionismus. Interpretationen und Einlassungen“ fest, dass „Nachlässigkeiten in der Kunstkritik, in feministischen Abrechnungen mit dem ‚männlichen Blick’ und einer Bildjournalistik ohne Quellen-Wissen zum negativen Frauenbild des Wiener Aktionismus in der öffentlichen Meinung beigetragen [haben]. Es fehlt an einer verlässlichen Biografik zum weiblichen Aktionismus …“ [4] . Genau das thematisierten meine Arbeiten „Let’s twist again“ und „Lora Sana, Aktionistin, 62“. Mich interessierte es, den klassischen Kunstkanon am Beispiel des Wiener Aktionismus aus feministischer und queerer Perspektive zu analysieren und kritisch zu befragen.

Teile des Textes wurden in: „Gender Performances. Wissen und Geschlecht in Musik Theater Film“, hg. v. Andrea Ellmeier, Doris Ingrisch, Claudia Walkensteiner-Preschl (mdw Gender Wissen Bd. 2), Wien/Köln/Weimar 2011, S. 153-159, S. 154-155 veröffentlicht.

1) Carola Dertnig, Stefanie Seibold (Hg.), Let’s twist again. Performance in Wien von 1960 bis heute. Was man nicht denken kann, das soll man tanzen. Eine psychogeografische Skizze. [Performance in Vienna from 1960 until today. If You Can’t Think It, Dance It. A psychogeographic map, übers. v. Heide Pfenningbauer, Margarethe Clausen, Benjamin Jowett, Quick Translation, John S. Southard]. Gumpoldskirchen/Wien 2006
2) Johanna Schwanberg, Akteurinnen im Aktionismus. Anna Brus und Carola Derntig im Gespräch mit Johanna Schwanberg, in: Carola Dertnig. Nachbilder einer ungleichzeitigen Gegenwart/Afterimages of a Non-simultaneous Present, hg. v. Silvia Eiblmayr, Galerie im Taxispalais (deutsch/englisch), Innsbruck/Wien 2006, 49-79, 49.
3) Silvia Eiblmayr, Vorwort, in: Carola Dertnig. Nachbilder einer ungleichzeitigen Gegenwart/ Afterimages of a Non-simultaneous Present, hg. v. Silvia Eiblmayr, Galerie im Taxispalais (deutsch/englisch). Innsbruck/Wien 2006, 6
4) Peter Gorsen, Das Nachleben des Wiener Aktionismus. Interpretationen und Einlassungen seit 1969. Klagenfurt/Graz/Wien 2009, 21.