TANZPORTRÄT HARALD KREUTZBERG - 10 POSEN
2014
Tanzporträt Harald Kreutzberg – 10 Posen (2014), die aus einer Performance, einer eigens konzipierten Fahrradbühne, einem Performancevideo und Collagen besteht, ist eine Recherche über den zu seiner Zeit weltberühmten, heute jedoch fast vergessenen österreichischen Tänzer Harald Kreutzberg (1902-1968). Kreutzberg, der nicht nur Tänzer, sondern auch Choreograf, Kostümbildner, Film- und Theaterschauspieler sowie Zeichner war, zählt zu den avanciertesten Vertretern des ab den 1920er und 1930er Jahren international bekannten New German Dance, eine Form des Ausdruckstanzes, die von der deutschen Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin Mary Wigman entwickelt wurde und in deren Tanzschule Kreutzberg Ballettunterricht nahm. Kreutzberg startete ab den 1930er Jahren ausgedehnte Tourneen, die ihn von den USA, über Europa bis nach Russland, Japan und China führten. Seine Rolle im Nationalsozialismus ist weitgehend ungeklärt. Obwohl er sich als Kosmopolit sah und seine Homosexualität verbergen musste, war er in dieser Zeit weiterhin als Tänzer und Schauspieler aktiv und ließ sich vom Nazi-Regime zumindest teilweise als kulturelles Aushängeschild instrumentalisieren, offenbar jedoch ohne dessen Ideologie zu teilen. Größtenteils unbekannt ist heute die Tatsache, dass Kreutzberg ein Haus in Seefeld in Tirol besaß, das für ihn ein Refugium und möglicherweise ein Ort des künstlerischen Experimentierens war, wie einige historische Fotografien zeigen. Für Carola Dertnig, die selbst in Seefeld aufgewachsen ist und als Kind davon hörte, dass Kreutzberg sich immer wieder dort aufgehalten hatte, stellt dies einen Ausgangspunkt dar, in dem sich lokale Aspekte, individuelle Biografien und internationale Tanz- und Performancegeschichte verbinden. In ihrer Auseinandersetzung mit Harald Kreutzberg knüpft Dertnig an Arbeiten an, in denen sie Tanz und Choreografie als wesentliche Bereiche von Performance- und Kunstgeschichte untersucht. In einer über mehrere Jahre verfolgten Werkgruppe von Collagen, die zugleich analytische Recherchen und poetische Verdichtungen sind, beschäftigt sie sich beispielsweise explizit mit der Rolle des Tanzes als Teil der Performancekunst, wobei deren kunsthistorische Bedeutung auch eine genderpolitische ist. „Mich interessiert die Geschichte des Tanzes in Zusammenhang mit der Kunst. Frauen haben es geschafft, den Tanz in den Kanon der Kunst einzuschleusen. […] im Tanz haben sich Frauen verwirklicht, und das wurde dann Teil der Performance-Geschichte.“i In ihrer Auseinandersetzung mit Harald Kreutzberg holt Carola Dertnig einen Protagonisten der Tanz- und Performancegeschichte zurück ins Bewusstsein, dessen Leistungen vergessen oder zumindest vernachlässigt wurden, allerdings nicht aufgrund seines Geschlechts, sondern aufgrund seiner undefinierten und unaufgearbeiteten Haltung im Nationalsozialismus. Formal schließt Dertnig in Tanzporträt Harald Kreutzberg an die Performances Again Audience (2012) und Tacheles Speech (2013) an. Wie in diesen beiden Arbeiten kommt auch in der neuen Performance eine mobile Rednerbühne zum Einsatz, deren Flexibilität sie hier allerdings noch steigert, indem sie diese mit einem Fahrrad kombiniert. Dertnig begibt sich mit dem Fahrrad auf einen öffentlichen Platz vor die Galerie und lässt auch schon den Aufbau der Bühne zu einem Teil ihrer folgenden Performance werden. Architektonischer und politisch-historischer Bezugspunkt für die mit wenigen Handgriffen auf- und zuklappbare Einpersonenbühne, die aus einem umlaufenden Geländer, einer Tafel für Aufschriften und einem ausziehbaren Scherenzaun besteht, ist das Modell einer Tribüne, die Alexander Rodtschenko in den 1920er Jahren für einen – nicht realisierten – Arbeiterclub entwarf. Was Dertnig an Rodtschenkos Konzept einer mobilen Bühne hauptsächlich interessiert, war seine Intention, „einen gesellschaftlich uneingeschränkten Raum für Bildung und für eine aktive Teilnahme an künstlerischen, sozialen und politischen Fragestellungen zu schaffen“. Das Lastenfahrrad, in das die Bühne verbaut ist, steht dementsprechend auch für eine Form von Mobilität, die auf der Verfügbarkeit einfacher, geringer Mittel basiert und die innerhalb der Reichweite einer Person und ihrer Kraft schnell und leicht realisierbar ist. Das Fahrrad als das unmotorisierte Fahrzeug schlechthin steht im Gegensatz zur Industrialisierung und aktuell offenbar profitabler, aber ökologisch fragwürdiger Praktiken im Transportwesen. Das Hybrid aus Fahrrad und Bühne stellt für Dertnig aber nicht nur den Ort ihrer Performance dar, sondern repräsentiert zugleich eine Art performatives Archiv, mit dem sie ein Bewusstsein für einen vergessenen und zugleich widersprüchlichen Künstler der Avantgarde schaffen will.
Jürgen Tabor
Performance, 23. 05. 2014, Galerie im Taxispalais, Innsbruck
Bühnenrad / Stage bike: Lastenfahrrad / cargo bike, 208 x 85 cm; Box: 88 x 62 x 36 / 50 cm;
Entwurf / design: Peter Kalsberger, Wien / Vienna
Maske: Helene Valentini
Kostüm: Nachlass Christiane Dertnig
Hut: Hutsalon Viktoriya
Plakat zu Score: Arnold Roman Müller, Maße: Din A0 Collage, Maße variabel / dimensions variable
HD Video, Farbe, Ton / colour, sound; Kamera, Schnitt / camera, editing: Katharina Cibulka, Innsbruck
Fotos: Rainer Iglar
Courtesy Galerie Andreas Huber, Wien / Vienna
Dank an: Helmut Dertnig, Angelika Trawöger und der Galerie im Taxispalais